Ner­ven­stark und schmerz­frei

Jeder kennt sie und jeder hat sie schon mal gehabt: Schmer­zen. Hier­bei gibt es ver­schie­de­ne Schmerz­ar­ten. Eine Wun­de tut weh, wenn wir uns geschnit­ten haben. Unse­re Knie schmer­zen nach einem lan­gen Lauf. Wir bekom­men Kopf­schmer­zen von lan­ger PC-Arbeit oder Bauch­weh, wenn wir gestresst sind. Neu­ro­zen­trier­te Übun­gen kön­nen hel­fen.

Schmer­zen sind etwas Unan­ge­neh­mes und ein Warn­si­gnal. Den­noch wer­den sie situa­ti­ons­be­dingt wahr­ge­nom­men und unser Schmerz­emp­fin­den ist sehr indi­vi­du­ell. Zusätz­lich bedeu­ten Schmer­zen nicht auto­ma­tisch eine Ver­let­zung. Schmerz kann auch ohne struk­tu­rel­len Scha­den ent­ste­hen. Dies zei­gen die oben genann­ten Bei­spie­le der Kopf­schmer­zen nach PC-Arbeit oder die Bauch­schmer­zen bei Stress. Sie sind viel­mehr ein Anzei­chen, dass unser Ner­ven­sys­tem aus der Balan­ce ist. Denn Schmer­zen ent­ste­hen im Gehirn. Und dies gilt aus­nahms­los für alle Fäl­le.

Anspan­nung & Ent­span­nung

Unser heu­ti­ger Lebens­stil ist schnell­le­big und über unse­re Umwelt pras­seln vie­le ver­schie­de­ne Stres­so­ren auf uns ein. Wir tre­ten auf das Gas­pe­dal und über­la­den unser Sys­tem. Vor­nehm­lich in stres­si­gen Zei­ten ver­stär­ken sich Schmer­zen häu­fig. Es herrscht ein Ungleich­ge­wicht in unse­rem Ner­ven­sys­tem mit einem über­mä­ßig akti­ven Sym­pa­thi­kus. Des­sen Gegen­spie­ler ist der Para­sym­pa­thi­kus. Ein wich­ti­ger Teil die­ses Ent­span­nungs­sys­tems ist der Vagus­nerv. Eine Akti­vie­rung des Vagus kann daher ent­schei­dend zu Ent­span­nung und einem ver­rin­ger­ten Schmerz­emp­fin­den bei­tra­gen.

Die Rol­le des Vagus

Der Begriff „Vagus­nerv“ lei­tet sich von dem latei­ni­schen Begriff vaga­ri ab. Dies bedeu­tet umher­schwei­fen und ist ziem­lich tref­fend, da der Vagus der längs­te und größ­te Nerv in unse­rem Kör­per ist. Er besitzt viel­fäl­ti­ge Auf­ga­ben und fun­giert als wich­tigs­ter Infor­ma­ti­ons­ge­ber für unser Gehirn über auto­nom ablau­fen­den Funk­tio­nen in unse­rem Kör­per. Der Vagus sam­melt haupt­säch­lich vis­ze­ra­le Infor­ma­tio­nen aus unse­rem Kör­per­in­ne­ren und gibt die­se an die Insel­rin­de wei­ter. Die Insel­rin­de ist ein Inte­gra­ti­ons­zen­trum in unse­rem Gehirn und hat eine hohe Rele­vanz für Schmerz­emp­fin­den.

Infor­ma­tio­nen, die der Vagus­nerv unter ande­rem sam­melt, sind:

  • Atmung, Moni­to­ring der Blut­ga­se
  • Herz­schlag, Blut­druck
  • pH-Wert
  • Kör­per­tem­pe­ra­tur

Affe­ren­te & effe­ren­te Infor­ma­tio­nen

Cir­ca 80 %, also ein Groß­teil der vaga­len Infor­ma­tio­nen, lau­fen affe­rent, das bedeu­tet vom Kör­per zu unse­rem Gehirn. Der Vagus erstellt für die Insel­rin­de ein Bild über auto­no­me Funk­tio­nen und ist damit maß­geb­lich an einer funk­tio­nie­ren­den Inter­o­zep­ti­on betei­ligt.

Die Qua­li­tät der auf­ge­nom­me­nen Infor­ma­tio­nen über den Vagus sowie deren Wei­ter­ga­be an unser Gehirn spie­len eine maß­geb­li­che Rol­le für unser Wohl­be­fin­den und unser Schmerz­emp­fin­den. Unser Gehirn bekommt die Infor­ma­ti­on, dass alle inne­ren Orga­ne ord­nungs­ge­mäß funk­tio­nie­ren und dass wir in Sicher­heit sind. Die rich­ti­ge Ein­ord­nung und Regu­la­ti­on die­ser Pro­zes­se ist ein wich­ti­ger Bestand­teil bei der Schmerz­re­ha­bi­li­ta­ti­on. Sicher­heit hat für unser Gehirn immer obers­te Prio­ri­tät. Fühlt sich unser Gehirn nicht sicher, so ist eine mög­li­che Reak­ti­on des Gehirns Schmer­zen.

Ledig­lich 20 % der Infor­ma­tio­nen des Vagus lau­fen effe­rent, das heißt vom Gehirn zum Kör­per. Hier­über wer­den Pro­zes­se wie Organ­tä­tig­keit vom Gehirn gesteu­ert und regu­liert. Über die effe­ren­ten Bah­nen wer­den auch ent­zün­dungs­hem­men­de Signa­le an den Kör­per gelei­tet, was einen wei­te­ren Bei­trag zur Schmerz­re­duk­ti­on leis­ten kann.

Loka­li­sa­ti­on

Der Vagus­nerv ent­springt in der Medul­la, einem Bereich im Hirn­stamm, und ist einer unse­rer 12 Hirn­ner­ven. Genau­er gesagt ist er der X. Hirn­nerv. Er tritt an den Ohren nahe an die Haut, inner­viert u. a. die Zun­ge, läuft über Rachen, Kehl­kopf, Spei­se­röh­re hin zu unse­ren Ver­dau­ungs­or­ga­nen wie Magen, Darm, Leber oder Nie­re. Der Vagus inner­viert aber auch einen Teil der Lun­ge und das Herz. Er ist der ein­zi­ge Nerv in unse­rem Kör­per, der sowohl Berei­che im Kopf inner­viert als auch als peri­phe­rer Nerv den Kör­per durch­zieht. Als wich­ti­ge Struk­tur des Para­sym­pa­thi­kus sorgt er für Rege­ne­ra­ti­on und Ent­span­nung. Schau­en wir uns den Ver­lauf des Vagus­nervs an, so erge­ben sich hier­aus ver­schie­de­ne Ansatz­mög­lich­kei­ten, ihn zu akti­vie­ren.

Ohr­sti­mu­la­ti­on

Der Vagus tritt am Inne­ren der Ohr­mu­schel nahe an die Kör­per­ober­fla­che und kann dort ein­fach über die Haut akti­viert wer­den. Die­se Sti­mu­la­ti­on kann über ver­schie­de­ne sen­so­ri­sche Wege, wie Berüh­rung, Vibra­ti­on oder auch elek­tri­sche Sti­mu­la­ti­on gesche­hen. Zur sen­so­ri­schen Sti­mu­la­ti­on eig­nen sich zum Bei­spiel ein ein­fa­ches Wat­te­stäb­chen (sanf­te Berüh­rung) oder auch die Spit­ze einer Büro­klam­mer (spit­zer Reiz).

Hier­für wird ein Wat­te­stäb­chen an die Innen­sei­te der Ohr­mu­schel plat­ziert. Mit sanf­tem Kon­takt zur Haut wird das Wat­te­stäb­chen in die­sem Bereich für ca. 20–30 Sekun­den hin und her bewegt oder auch rotiert. Alter­na­tiv kann mit der Spit­ze einer Büro­klam­mer in die­sem Bereich leicht getippt wer­den. Wäh­rend der Durch­füh­rung ist auf eine beque­me Hal­tung sowie eine ruhi­ge und gleich­mä­ßig Atmung zu ach­ten. Die Akti­vie­rung kann sowohl am lin­ken als auch am rech­ten Ohr durch­ge­führt wer­den. Wich­tig: Der Sti­mu­lus wird immer an der Ohr­mu­schel, nicht im Gehör­gang plat­ziert.

Ver­län­ger­te Aus­at­mung

Die Akti­vie­rung des Vagus über Atmung geschieht auf unter­schied­li­chen Wegen. Leicht und immer durch­zu­füh­ren ist eine ver­län­ger­te Aus­at­mung. Die­se bewirkt eine Ver­schie­bung der Atem­ga­se hin zur Erhö­hung von CO2 und Ernied­ri­gung von O2, was den Vagus­nerv trig­gert und damit das para­sym­pa­thi­sche Sys­tem akti­viert. Das Ergeb­nis ist eine sofor­ti­ge Ent­span­nung, und die­se Übung ist ins­be­son­de­re bei chro­ni­schen oder vis­ze­ra­len Schmer­zen geeig­net.

Zu Beginn ist ein 2:4‑Verhältnis zwi­schen Ein- und Aus­at­mung opti­mal. Wich­tig ist, dass der Fokus auf der Aus­at­mung liegt. Die­se Atem­kon­troll­tech­nik soll­te zuerst in Ruhe geübt wer­den und kann spä­ter mit etwas Übung auch beim Gehen oder jeder ande­ren Tätig­keit durch­ge­führt wer­den. Als Zeit­ein­heit bie­tet sich der Sekun­den­takt an oder beim Gehen auch das Schritt­tem­po. 2 Schrit­te ein­at­men, 4 Schrit­te aus­at­men. Wich­tig sind ein lang­sa­mer Beginn und eine Pau­se bei etwai­ger auf­kom­men­der Luft­not. Die­se Atem­kon­troll­übung kann 1–3 Mal täg­lich für meh­re­rer Minu­ten durch­ge­führt wer­den oder bei aku­ten Schmer­zen.

Sum­men

Sum­men erzeugt eine Vibra­ti­on an Kehl­kopf, Rachen und Stimm­bän­dern. Auch hier läuft der Vagus­nerv ent­lang und kann damit wun­der­bar akti­viert wer­den. Die leich­te Vibra­ti­on sorgt für Ent­span­nung und bewirkt zusätz­lich die Frei­set­zung von Endor­phi­nen im Gehirn, die zur Hem­mung von Schmerz­rei­zen bei­tra­gen.

Opti­ma­ler­wei­se wird ein lau­tes und tie­fes Sum­men erzeugt und der Fokus liegt auf der Vibra­ti­on in Rachen und Keh­le. Als Zeit­in­ter­vall eig­nen sich 15–30 Sekun­den, oder so lan­ge, wie das Sum­men als ange­nehm emp­fun­den wird. Die­se ein­fa­che Übung eig­net sich wun­der­bar zur Inte­gra­ti­on in den All­tag, z. B. ein Lied zu sum­men beim Musik­hö­ren. Eine Varia­ti­on der Ton­la­ge oder der Laut­stär­ke trägt dazu bei, das Training abwechs­lungs­reich zu gestal­ten.

Kom­bi­na­ti­on der Übun­gen

Grund­sätz­lich ist es mög­lich und im Schmerz­kon­text auch sinn­voll, meh­re­re Vagus-Übun­gen mit­ein­an­der zu kom­bi­nie­ren, um vie­le Infor­ma­tio­nen an das Gehirn zu sen­den und die Insel­rin­de aus­rei­chend zu akti­vie­ren. Dies trägt dazu bei, das Sicher­heits­be­dürf­nis des Gehirns zu befrie­di­gen und damit Schmer­zen zu regulieren.Als zen­tra­ler Nerv des Para­sym­pa­thi­kus spielt der Vagus­nerv eine wich­ti­ge Rol­le für unser Wohl­be­fin­den und die Schmerz­re­gu­la­ti­on. Er ist ein wah­res Mul­ti­ta­lent mit viel­fäl­ti­gen Auf­ga­ben und sei­ne Akti­vie­rung kann einen Bei­trag zur Schmerz­re­duk­ti­on und einer Viel­zahl von ande­ren stres­sas­so­zi­ier­ten Sym­pto­men leis­ten. Nicht umsonst wird er auch als der Selbst­hei­lungs­nerv bezeich­net. Es lohnt sich, ihn in Training und The­ra­pie zu berück­sich­ti­gen und über ver­schie­de­ne Maß­nah­men zu akti­vie­ren.

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