Auf die Frage, ob es zu der viel diskutierten Übersäuerung des Körpers kommen kann, haben Experten konträre Meinungen. Die klinischen Mediziner sagen überwiegend nein, während Ganzheitsmediziner in ihr ein Hauptproblem vieler chronischer Erkrankungen sehen. shape UP präsentiert die gegensätzlichen Auffassungen.
Die schulmedizinische Sicht
Vertreten wird die Schulmedizin an dieser Stelle durch Professor Dr. Andreas Pfeiffer vom Deutschen Zentrum für Ernährungsforschung. Wir fassen Aussagen aus einem Interview mit ihm zusammen. Pfeiffer widerspricht der These, dass viele Menschen übersäuert sind, denn wir seien sehr wohl dazu in der Lage, unseren Säure-Basen-Haushalt mithilfe zweier Systeme sehr genau zu regeln. Nämlich durch die Lunge und den Stoffwechsel.
Beim Stoffwechsel kommt es dabei vor allem auf die Nieren an, denn sie sorgen dafür, dass über die Nahrung aufgenommene Säure ausgeschieden wird. Es gebe allerdings „echte“ chronische Übersäuerungen (Azidosen), die zu einer Nierenverkalkung führen können. Über die Lunge wird Säure quasi abgeatmet, was das Blut alkalischer/basischer macht. Volkstümlich ausgedrückt ist alkalisch der gute „Gegenspieler“ zu säurehaltig. Dabei entscheidet der sogenannte pH-Wert über „basisch“ oder „sauer“. Ein Wert von 7,0 (der des Wassers) gilt als neutral, alles darunter als „sauer“, alles darüber als „basisch“. Der durchschnittliche pH-Wert des Blutes liegt bei 7,4. Pfeiffer führt aus, dass dieser bei gesunden Menschen nicht dauerhaft unterschritten wird. Wenn man viel Säure erzeuge, etwa bei der Fettverbrennung, sei man zwar anschließend unter 7,4 – dies würde aber vom Körper sehr schnell wieder korrigiert.
Übersäuerung ist keine Ursache von Krankheiten
Der Körper kann, der Schulmedizin zufolge, mit zu viel Säure insgesamt gut umgehen. Richtig ist zwar, räumt Pfeiffer ein, dass er sie im sauren Urin nur begrenzt ausscheidet – aber ein gesunder Mensch habe etwa 20Mal mehr freie Basen- als freie Säuremoleküle im Körper und damit einen gewaltigen Puffer, der vor Übersäuerung schützt. Dass Säure die Ursache von Krankheiten ist, würde daher kaum jemand in der Ernährungswissenschaft akzeptieren. Auch der These der Alternativmedizin, dass Säuren sich im Bindegewebe anreichern, und damit als Krankheitsauslöser infrage kommen, wird widersprochen. Das Problem sei, dass diese These bislang nicht durch Messungen belegt worden sei – daher stelle sich die Frage, worauf sich deren Befürworter berufen. Auch dass, wie gerne behauptet, Rauchen und Bewegungsmangel zu erhöhter Säurebildung beitragen, verneint Pfeiffer, beides sei aber natürlich schädlich.
Ernährungsaspekte
Um einer Übersäuerung des Körpers durch zu viel Fleisch und Zucker entgegenzuwirken, müsse man weniger säurebildende Lebensmittel essen und stattdessen mehr Obst und Gemüse zu sich nehmen, lautet eine häufige Empfehlung der „Übersäuerungsfraktion“. Dem entgegnet Pfeiffer, dass sowohl Zucker als auch gesättigte Fette nichts mit Säure zu tun haben. Das Problem ist nach Ansicht des Ernährungsmediziners einfach, dass wir zu viel essen und dass ungesundes Essen den Stoffwechsel belastet. Somit könnten sogenannte basische Lebensmittel den Körper auch nicht basischer machen. Gleichwohl habe eine pflanzliche Ernährung viele Vorteile, aber nicht unbedingt den Vorzug, den Säure-Basen-Haushalt im Gleichgewicht zu halten. Gut seien vor allem Mikronährstoffe, die der Stoffwechsel braucht, also Polyphenole, Salze, Magnesium und Vitamine.
Die ganzheitsmedizinische Auffassung
Ganzheitliche Medizin unterscheidet sich von der Schulmedizin unter anderem dadurch, dass sie auch die Naturheilkunde miteinbezieht. Gemäß Verlautbarungen von mediportal-online, das seinen Schwerpunkt in eben dieser Fachrichtung hat, kommt eine Übersäuerung des Blutes in der Tat selten vor. Dass dies so ist, verdanken wir den (von Professor Dr. Pfeiffer bereits angeführten) Puffersystemen im Organismus. Die klinische Meinung sei also insofern absolut nachvollziehbar.
Übersäuerung verursacht sehr wohl Krankheiten
Bei dem Punkt, Übersäuerung liefere keine Krankheitsursachen, gehen die Überzeugungen jedoch deutlich auseinander. Laut ganzheitlicher Medizin muss das „Säuren-Stoffwechselendprodukte-Gemisch“ ausgeschieden werden. Kommt es hierbei zu Störungen, lagern sich Ausscheidungsprodukte in den Zellen und auch dazwischen ab. Daraus erklären sich Beschwerdebilder, wie Rheuma, Schmerzen in den Muskeln, gestörte Abwehrlagen, Allergien, aber auch Allgemeinsymptome wie Müdigkeit und Abgeschlagenheit. Zudem besteht der Verdacht, dass die gefürchteten Ablagerungen in den Blutgefäßen, die mit Gefahren wie Herzinfarkt und Schlaganfall einhergehen, durch Übersäuerung begünstigt werden. Übersäuerung liefert aus naturheilkundlicher Sicht im Übrigen ein weiteres Argument für eine sportliche Betätigung. Anstrengende körperliche Tätigkeit, ausdauernder Sport und auch Saunagänge führen demnach zum Ausscheiden der Säuren über den Schweiß und den Atem. Und weiter: Entspannungsverfahren, wie Energiearbeit, Meditation und autogenes Training, beruhigen nicht nur das Gemüt, sondern vermeintlich auch den Säure-Basen-Haushalt.
Ernährungsaspekte
Kommt zur Ablagerung der Ausscheidungsprodukte noch eine ungesunde säurelastige Ernährung dazu, wird der Effekt der Übersäuerung gesteigert, was schließlich zu verstärkten Krankheitssymptomen führen kann. Daraus erkläre sich beispielsweise der Trugschluss, einen Gichtanfall einzig und allein auf die Ernährung zurückzuführen. In der Regel sei es das Zusammenwirken der genannten Faktoren, die zu diesem Beschwerdebild führen. Laut Naturheilkundlern ist es generell besser, fettarm zu essen. Außerdem wäre es angeraten, bevorzugt Lebensmittel zu verzehren, die sich im Organismus neutral oder basisch verhalten. Das sind beispielsweise Obst, Gemüse sowie Kräuter und Samen.
Bewertung
Ob teilweise niedrige pH-Werte ein Anlass dafür sein sollten, naturheilkundliche Überlegungen in sein persönliches Vorsorgeprogramm einfließen zu lassen, ist letztlich eine Glaubensfrage. Befürworter dieser Auffassung sind zu weiten Teilen jedenfalls auch Akademiker. Gegen die naturheilkundlichen Selbsthilferatschläge sportlich aktiv zu werden, besser zu entspannen und Genussmitteln gegenüber skeptisch zu sein, ist sicher nichts vorzubringen. Beim fettarmen Essen und ob auch noch Basenmittel wie Bullrich-Salz oder Kaiser-Natron zum Einsatz kommen sollten, scheiden sich dann wieder die Geister. Übrigens: Wenn Sie einmal testen möchten, ob Sie „übersäuert“ sind – urinale Teststreifen gibt es in der Apotheke.
Quelle: shape UP fitness 6/19
Abbildung: hamidisc / shutterstock.com